Wie kein anderer Hersteller spielt Yamaha auf der Klaviatur des Baukastensystems. Denn wenn man es nicht besser wüsste, würde man hinter der SCR 950 kein Derivat, sondern ein neu entwickeltes Modell vermuten. Das liegt nicht nur daran, dass diese Zweirad-Schöpfung wie aus einem Guss wirkt, sondern auch daran, dass es mehr als ungewöhnlich ist, aus einer puristischen Bobber eine Scrambler zu stricken. Auf die Idee einer solchen Mutation muss man erst einmal kommen.

Verräterisch an der Schönheit auf zwei Rädern ist nur der rechts auffällig vorstehende Luftfilterkasten. Er verrät die Ausgangsbasis: die XV 950 R. Von einem Chopper fehlt bei der SCR ansonsten aber jede Spur. Hier steht eine Yamaha, die vor allem ältere Fans der Marke anspricht und stilistisch voll in Richtung Retro weist und die bislang klassischste Vertreterin der „Sport Heritage“-Familie von Yamaha ist. Bei nahezu jedem Tankstopp erntet sie mit ihrer Farbkombination aus Schwarz, Rot und Weiß bewundernde Blicke. Weitere Attribute der SCR sind Faltenbälge, eine schmale Sitzbank mit klassischer Soziusschlaufe über dem Polster und angedeuteten Startnummern-Tafeln, die in diesem Fall die Typenbezeichnung tragen. Den schönen Schein entlarvt eigentlich nur das eins zu eins von der XV übernommene digitale und wenig schmuckvolle Digitalrundinstrument, das weder Tank- noch Ganganzeige geschweige denn einen Drehzahlmesser bietet.

Der luftgekühlte 60-Grad-V2 mit 942 Kubikzentimetern Hubraum wurde ebenfalls unverändert von der XV übernommen und steckt in traditioneller Weise in einem Doppelschleifenrahmen. Entscheidender als die eher bescheidenen 40 kW / 54 PS sind die knapp 80 Newtonmeter Drehmoment, die der Motor bei 3000 Umdrehungen auf die Kurbelwelle stemmt. Er nimmt sauber und fein dosierbar Gas an, wobei Vibrationen allgegenwärtig, aber nie aufdringlich sind. Die Leistung wird homogen abgegeben und per Fünf-Gang-Getriebe sowie Riemen an das 17-Zoll-Hinterrad weitergeleitet. In den dumpfen Klang mischt sich im letzten Gang zwischen 113 km/h und 121 km/h dabei ein eigenwilliges sirenenartiges Heulen.

Das breit bauende Aggregat eckt gerne beim Fahrer an. Rechts trifft das Luftfiltergehäuse auf die Kniescheibe, und linksseitig hängt das vordere Ende des hinteren Zylinders in der Kniekehle. Beides nehmen aber auch 950er-Neulinge schon nach wenigen Kilometern nicht mehr wahr. Apropos anecken: Im Stand stoßen die Schienbeine an die Fußrasten. Sie sind ungummiert und zollen dem Scrambler-Anspruch Tribut, der sich außerdem in etwas grobstolliger Serienbereifung, dem 19-Zoll-Vorderrad und einem leicht nach oben abgewinkelten Endtopf der Zwei-in-Eins-Auspuffanlage sowie dem breiten Lenker mit Mittelstrebe manifestiert. Letzterer ist leicht nach hinten gedreht und rückt den Fahrer für eine entspannte Haltung eher in die Mitte der Bank. Dann berühren auch die Beine nicht mehr den Motor.

Wer mit den stark profilierten Bridgestone-Pneus die Schräglage sucht, der muss die SCR mit ein wenig Körperdruck aus der Vertikalen holen. Schon bei der ersten Sitzprobe wird auch klar, allzu lange will man auf der SCR nicht reiten: Das Polster ist enorm hart. Dazu kommt eine Federung, die ebenfalls eher grob ausgelegt ist. So zwingt die vordere und über den nicht einstellbaren Hebel hervorragend dosierbare Wave-Einzelscheibe aber die Gabel auch bei höheren Verzögerungswerten nicht gleich in die Knie.

SCR steht für Scrambler. Wir würden beim Anblick der Yamaha zwar eher zu FLT oder DIT (Flat Tracker bzw. Dirt Tracker) tendieren, aber das XV-Derivat entzieht sich unseres Erachtens aufgrund der nicht zu verleugnenden Chopperabstammung ohnehin ein wenig gängigen Kategorisierungen. Also vielleicht doch COV 950 für Crossover?

Egal als was man die Yamaha SCR 950 betrachtet, sie ist auf jeden Fall eine Maschine, die Motorrad fahren pur vermittelt. Der bullige, aber nie aufdringliche und ausreichend kräftige Antrieb geht mit einer zwar nicht komfortablen, aber entspannten Ergonomie einher. Dazu gibt es konzeptionell noch einen Schuss Abenteuergefühl. Für uns hat die SCR 950 auf jeden Fall das Potenzial, zu einem Klassiker der Marke zu werden. (ampnet/jri)

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